Tag 9 -Hufmechanismus und Cushing-Test

Er war wieder unterwegs. Die andere Rheinseite, das Ziel, lag etwa eine halbe Stunde entfernt. Eine Strecke, die er inzwischen so gut kannte, dass sie ihm fast wie ein Teil seiner täglichen Routine vorkam. Doch heute war der Verkehr zäh, die Straßen voll, und die Aussicht auf einen bevorstehenden Feiertag schien die Menschen in Bewegung zu setzen – oder eher in Stillstand zu versetzen. Er saß im Auto, hörte wie immer Radio, Deutschlandfunk oder einen ähnlichen Sender, der ihm mit Wortbeiträgen die Zeit vertrieb. Heute ging es um amerikanische Politik, russische Drohnen und die Weltlage, die, wie er fand, oft dramatischer dargestellt wurde, als sie tatsächlich war. Aber seltsam, ja, seltsam war das alles schon. Ein Gedanke, der ihn begleitete, während die Autos um ihn herum kaum vorankamen.

Der Morgen war produktiv gewesen. Noch bevor er losgefahren war, hatte er mit der Tierärztin telefoniert. Das alte Pferd von gestern, das mit den unklaren Symptomen, war Thema des Gesprächs. Gemeinsam hatten sie beschlossen, einen ACTH-Wert zu nehmen – einen Cushing-Test. Vorsichtshalber. Dazu entzündungshemmende und schmerzlindernde Medikamente, ein Krankenpaddock, um die Bewegung einzuschränken, und ein Röntgenbild mindestens eines Vorderhufs. Die Möglichkeit einer schleichenden Hufbeinsenkung stand im Raum, eine Veränderung der Lage des Hufbeins, die durch Cushing hervorgerufen werden konnte. Es war ein Plan, der sich wie ein Puzzle zusammensetzte, jedes Teil ein Schritt in Richtung Klarheit.

Am zweiten Stall war er fertig, und der dritte lag glücklicherweise nur ein paar Minuten entfernt. Dort hatte er den Beschlag eines Pferdes geändert, das einen orthopädischen Beschlag trug. Platte und Polster sollten vorübergehend weichen, eine Entscheidung, die er aus verschiedenen Gründen getroffen hatte. Natürlich hatte er erklären müssen, warum. Die Kundin hatte nach dem Hufmechanismus gefragt, und er hatte ihr seine Meinung mitgeteilt – eine Meinung, die er selbst mit einem Hauch von Ironie betrachtete. In der Szene der Hufschmiede und Hufpfleger, so sagte er, sei vieles Meinung. Der Hufmechanismus? Nicht gut genug erforscht, um als Tatsache zu gelten. Und wo keine Fakten sind, da gibt es Meinungen. Viele Meinungen. Am Ende, so erklärte er, müsse man pragmatisch bleiben, das einzelne Pferd betrachten und zum Wohle dieses besonderen Tieres handeln.

Interessant, dachte er, wie Professor Dr. Pollitt aus Australien in einem seiner letzten Webinare zwischen „Evidence“ und „Proof“ unterschieden hatte. Ein feiner Unterschied, der zeigte, dass selbst in der Wissenschaft nicht alles, was evidente Hinweise liefert, auch wirklich als bewiesen gelten kann. Ein Gedanke, der ihn begleitete, während er am dritten Stall arbeitete.

Dort lief alles planmäßig. Einzig einmal musste er auf einen anderen Teil der Stallgasse ausweichen, weil ein Tierarzt ein Pferd röntgen musste. Strahlenschutz, natürlich. Als er fertig war und eingepackt hatte, kam die Besitzerin des geröntgten Pferdes auf ihn zu. Ob er nächsten Montag Zeit hätte, das Pferd neu zu beschlagen? Der Tierarzt hatte Anregungen, wie der Beschlag geändert werden sollte, und wollte selbst dabei sein. Zufällig, dachte er, war er Montag ohnehin in der Nähe. Also würde er wohl bald wieder hier sein.

Jetzt aber stand er im Stau. Der Verkehr war immer noch schlimm, und die Aussicht, später nach Hause zu kommen, war wenig erfreulich. Doch so war es eben. Ein Tag wie viele andere, und doch ein Tag, der sich wie ein kleiner Ausschnitt aus einem größeren Bild anfühlte. Ein Bild, das er jeden Tag ein wenig weiter malte, mit jedem Huf, jedem Gespräch, jeder Fahrt.

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